Evolutionspsychologische Mechanismen hinter extremen Reaktionen und Möglichkeiten des Verzeihens.

Warum reagieren wir manchmal extrem? Was geht hierbei in unseren Körpern vor? Zwischenmenschliche Konfliktsituationen lassen nicht selten viel emotionales Porzellan zerbrechen. Scherben sind in Ordnung, auch wenn erste Leimversuche manchmal nicht gleich dazu führen, dass der Ursprungszustand wieder hergestellt wird. Dennoch ist es denkbar, das zerbrochene emotionale Porzellan wieder in einen gut nutzbaren Zustand zu bekommen. Sodass künftig wieder ohne Bedenken von diesen Tellern gegessen werden kann, obwohl die geleimten Risse noch daran erinnern, dass es in der Vergangenheit mal ein Vorkommnis gab. Dazu bedarf es der Fähigkeit zur Vergebung. Und Vergebung fällt grundsätzlich leichter, wenn die zugrundeliegenden Mechanismen der Situationsentstehung besser verstanden werden.

(Hinweis: Der nachfolgende Text bezieht sich auf Alltagskonflikte und gilt nicht für Extremsituationen, in denen Menschen gewalttätig geschädigt wurden oder komplexe Traumata davon getragen haben.)

Unsere animalische Seite

In Situationen, in denen Menschen sich bedroht fühlen (und ich spreche hier nicht notwendigerweise von Lebensbedrohungen) gibt es nur drei Verhaltensoptionen. Diese sind evolutionspsychologisch begründbar. Die Optionen lauten a) Fight/Kampf, b) Flight/Flucht oder c) sich totstellen. Unser Unterbewusstsein entscheidet sich für die am nahe liegendste Option oder für diejenige, die unserem frühkindlich erlerntes Muster treu bleibt. Unsere Verhaltensweisen nähern sich dann denjenigen der Tiere an. Im Kampfmodus werden verkürzte neurologische Bahnen aktiviert und die Gehirnareale, die für rationales, planendes, vorausschauendes, respektvolles und funktionales Handeln zuständig sind, werden temporär aus Effizienzgründen ausgeschaltet. Bedeutet, dass Dinge gesagt oder getan werden, die nicht aus unserem tiefsten Inneren heraus bewusst gesteuert werden. Sondern als Überlebensstrategien dafür eingesetzt werden, dass wir diesen Kampf möglichst unbeschadet überleben. Dann werden auch Totschlag-Argumente und rauere Töne eingesetzt. Wir Menschen geraten in solchen Situationen in einen animalischen Modus, der uns nicht viel von Tieren unterscheidet. Das entschuldigt nicht automatisch jegliches Verhalten. Es erleichtert uns allerdings den Umgang mit schwierigen Situationen oder kreativen Verhaltensweisen anderer Menschen. Der Fluchtmodus ist im Gegensatz zum Kampfmodus eher von einem davonlaufen gekennzeichnet. Während der dritte Modus, des Totstellens bedeutet, nichts zu tun. Die Situation leidend hinzunehmen, aber auch nichts daran zu ändern. Dieser Modus birgt die größte Gefahr, auf Dauer krank zu werden. Denn Konflikte erzeugen Stress. Stress verändert unseren Hormonspiegel und versetzt den Körper in Alarmbereitschaft und drängen eigentlich zum Handeln (Fight or Flight).  Geschieht das nicht und der Konflikt bleibt erhalten, erzeugen diese neurobiologischen Veränderungen auf Dauer Krankheiten.

"Je beschissener sich jemand gegenüber dir verhält, desto beschissener geht es dem"?

Die Menschen, die uns verletzen oder beleidigen, sagen in dem Moment viel mehr über sich selbst aus als über die gegenüberliegende Person. Extreme und kreative Verhaltensweisen sind oft ein Zeichen der Hilflosigkeit. Eigentlich können einem diese Personen dann eher leidtun, statt dass wir wütend auf sie sind. Denn sie hätten selbst gerne bessere Bewältigungsstrategien für diese Situation. Und dennoch können diese Personen nur ihr bestmöglichstes Verhalten an den Tag legen, um ihr aktuelles Bedürfnis (zum Beispiel sich zu verteidigen, damit sie keine Fehler zugeben müssen) zu erfüllen.

Negatives wird siebenfach gespeichert

Es existiert eine Verzerrung von negativen und positiven Erinnerungen an Situationen oder Menschen. Unser Unterbewusstsein speichert negative Erfahrungen siebenmal gewichtiger ab, als positive. Erinnern Sie sich also gerne aktiv und bewusst auch an positive Erlebnisse, im Zusammenhang mit der Konfliktperson. Damit die Aussage: "Immer wenn ich dieser Person gegenüber trete, kommen diese negativen Gefühle wieder hoch!" neutralisiert werden kann.

Was bedeutet Vergeben?

Vergebung heißt nicht, die Vergangenheit mit ihren Geschehnissen und zugehörigen unangenehmen Gefühlen auszulöschen. "Schwamm drüber" ist nicht immer die treffendste Aussage. Denn Vergeben heißt nicht Vergessen im eigentlichen Sinne. Vergebung sollte auch nicht ausgesprochen werden, damit die andere Person sich besser fühlt, sondern in erster Linie dafür, dass wir uns selbst besser fühlen. Quasi ein Loslassen vom Groll über die geschehene Situation, zu eigenen Gunsten. Damit nicht nur wir das Geschehnis, sondern das Geschehnis auch uns loslassen kann. Es geht zunächst einmal darum, die Macht der Ereignisse und der beteiligten Personen von uns zu lösen. Die unangenehmen Gefühle, die mit dem Konflikt in Verbindung stehen, haben trotzdem ihre Existenzberechtigung. Sie sind richtig und wichtig. Sie dürfen aber getrost dorthin platziert werden, wo sie hingehören. Nämlich auf dem zeitlichen Kontinuum in die Vergangenheit.
Sobald diese vergangenen unangenehmen Gefühle im Heute bejahend akzeptieren können, dann wird Vergebung mehr und mehr zum freien Willen. Vom „Ich bin davon enttäuscht.“ hin zum „Ich war darüber sehr enttäuscht.“ Diese Aussage streitet nicht das Gefühl ab, aber platziert die Enttäuschung im Zeitstrahl in die Vergangenheit.

Wir selbst und kein Anderer ist für Heilung verantwortlich

Wenn diese oben beschriebene Einstellung zum Vergeben nicht gleich zu Beginn erzeugbar ist, dann ist das völlig in Ordnung. Neue Pfade der Persönlichkeitsentwicklung dürfen ihre Zeit brauchen, um sich zu entfalten. Um auf Dauer von vergangenen Konflikten loslassen zu können, ist es förderlich, sukzessive zu versuchen, die vergangene Situation aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Es ist möglich, vergangene Konflikte retrospektiv für sich zu korrigieren und damit Heilung zu erzeugen. Für diese Heilung benötigen Sie i.d.R. nicht einmal immer ein klärendes Gespräch. Denn häufig werden in solchen Gesprächen nicht die erwarteten Hoffnungen erfüllt. Häufig wird keine erhoffte Einsicht oder Entschuldigungen von der Gegenseite verbalisiert. Und dennoch haben beide Seiten meistens rückwirkend positive Effekte aus der Konfliktsituation für die Zukunft mitgenommen. Auch ohne dass dies bewusst geschieht oder offen zugegeben werden muss. Konfliktbewältigungen führen in Summe zu einer Persönlichkeitsentwicklung und zu Wachstum. Grundsätzlich lebt unsere Psyche vom lebenslangen Lernen, wenn wir uns darauf einlassen. Durch jeden Konflikt erhalten wir zunächst einen Knick, den wir davon tragen. Und viele Konflikte können auf uns wirken, als wären wir am Ende nur noch ein zusammengeknülltes Papier. Ein solches kompaktes Papierbällchen fliegt aber nach den Lösungen der Herausforderungen viel schneller und weiter, als ein unversehrtes Blatt Papier jemals fliegen kann. Und es ist zudem robuster.

„Sorry seems to be the hardest word”

Viele Menschen haben nicht gelernt, eigene Fehler einzugestehen, Dinge zurückzunehmen oder sich offiziell zu entschuldigen. Daher ist es empfehlenswert, die Augen danach offenzuhalten, mit welchen alternativen, verdeckten Entschuldigungsversuchen sie stattdessen versuchen, wieder Harmonie zu schaffen. Diese Zeichen dürfen genauso viel wert sein. Es ist niemanden geholfen, wenn wir Dinge erwarten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht eintreten werden und dadurch die Enttäuschung noch größer wird. Menschen haben unterschiedliche Arten, ihre Entschuldigung durch latente Wiedergutmachungs-Taten zu übermitteln. Diese Entschuldigungsformen dürfen auch angenommen werden, wenn das schwierige Wort „Entschuldigung“ nicht über die Lippen gebracht werden kann.

Wissen ist eine Macht, die alleine noch nichts macht

Wenn Sie die obenstehenden Prozesse bereits erkannt haben, ist das der erste wichtige Schritt, der es ermöglicht eine positive, gestärkte Sichtweise zu entwickeln. Wissen alleine führt allerdings noch nicht zum Ziel. Jetzt kommt es tatsächlich darauf an, was Sie mit diesem Wissen anstellen. Und wie Sie dieses positiv für sich nutzen. Und dafür ist es hilfreich, von der Schuldfrage zu wechseln auf die Verantwortungsfrage. Es ist prinzipiell egal, wer Schuld hat. Nur Sie tragen die Verantwortung dafür, wie lange und wie schwer die vergangene Konfliktsituation noch auf ihnen lastet.

Wenn es in Ihrer Lebensgeschichte immer wieder zu ähnlichen Konfliktsituationen mit verschiedenen Menschen kommt, kann es helfen auch die eigenen Anteile an den Ursachen zu reflektieren und zu analysieren. Mit fachkundiger Unterstützung gelingt dies oft einfacher. Vor allem geht es auch um die Frage, wann es in der Kindheit oder in der Vergangenheit zum ersten Mal zu einem Konflikt dieser Art kam. Und an was uns diese Situation erinnert.

Wichtig ist, dass irgendwann der Zeitpunkt kommen darf, an dem Sie sich dazu entscheiden, den Groll über Konfliktperson oder diese Situation gehen zu lassen, um wieder zu innerem Frieden zu finden.

10. Januar 2024

Autorin:
Sonya Anders, Psychologin
M.Sc. Angewandte Psychologie (Klinische Psychologie)
https://www.yourxpert.de/xpert/psychologin/sonya.anders