Ein Leben lang haben wir alle individuelle Gewohnheiten und eine Alltagskultur entwickelt, die unser inneres Gleichgewicht aufrechterhalten. In den meisten Fällen funktionierte das hinreichend gut, eine grundlegende psychische Stabilität vorausgesetzt. Aber die aktuellen Kontaktbeschränkungen in Verbindung mit den Beschränkungen der persönlichen Mobilität führen bei vielen Menschen zu außergewöhnlichem seelischen Stress.

Warum reagieren wir derart empfindlich auf die veränderten Lebensumstände, oft gereizt, fühlen uns antriebsarm bis hin zu depressiven Verstimmungen oder verweigern uns den auferlegten Beschränkungen?  

Dazu möchte ich vorweg folgende Frage aufwerfen: Wie gelingt es uns normalerweise, seelische Belastungen im Zaum zu halten, und, andersherum gefragt, woran liegt es genau, dass viele Menschen unter dem Lockdown psychisch so stark leiden? Eine Möglichkeit der Psyche, seelische Belastungen erträglich zu halten, ist das Aussortieren von Informationen und Reizen. Im Laufe unserer Lebensgeschichte haben wir dies „erlernt“. In der Ich-Psychologie sprechen wir von der Abwehrfunktion, die ihre hilfreichen Leistungen weitgehend unbewusst vollbringt. Unsere innere Abwehr sorgt in der Regel dafür, solange sie funktioniert, dass wir psychisch nicht übermäßig unter Druck geraten.

Ohne diese Funktion, die zu belastende innere Reize von unserer alltäglichen emotionalen Wahrnehmung fernhält, würden wir quasi von dem gesamten Leid dieser Welt psychisch unerträglich überflutet. Denken wir zum Beispiel an die hungernden Kinder in Afrika, an Unterdrückung und Gewalt in dieser Welt. Unsere innere Abwehr kontrolliert diese emotional hochbelastenden Eindrücke, mit denen wir über die modernen Medien ständig konfrontiert werden. Natürlich haben wir die furchtbaren Informationen wahrgenommen. Aber wenn unsere innere Abwehr hinreichend funktioniert, schützt sie uns aber davor, das Leid anderer Menschen ungefiltert nachzuempfinden und ermöglicht uns, dass wir uns  auf unsere täglichen Aufgaben konzentrieren können. Unsere innere Abwehr funktioniert zum großen Teil über Ablenkung. Wenn wir z. B. konzentriert arbeiten, uns mit Freunden treffen, einem Hobby nachgehen, Unterhaltungssendungen sehen, Einkaufen, Essen gehen, Feiern, Spielen, Ausflüge machen und Reisen kommen wir nicht so schnell auf „unangenehme Gedanken“. Und positiv „aufgefüllt“ wird unser emotionaler Haushalt auf der anderen Seite durch viel Bewegung, Licht und den Kontakt mit anderen Menschen, was die sogenannten Glückshormone aktiviert.

Vielleicht kennen Sie es aber auch, wenn Sie einmal nicht schlafen konnten, dass Sie ins Grübeln kamen und unangenehme Gedanken bis hin zu einem Gedankenkarussell auftauchen? In diesen Momenten der äußeren Ruhe und des Rückzugs nach innen sind wir anfällig für Zweifel, Minderwertigkeits-, Scham- oder Schuldgefühle und andere belastende Emotionen. Wir können froh darüber sein, wenn am nächsten Morgen mit beginnender Aktivität diese Schwachstellen unserer inneren Abwehr wieder ihre Bedeutung verlieren.

Der Lockdown kann aber zur Folge haben, dass das innere Gleichgewicht nicht mehr ausreichend hergestellt werden kann. Unter den Bedingungen des Lockdown entfallen viele dieser Ablenkungs- und Kompensationsmöglichkeiten, mit denen wir normalerweise unser inneres Gleichgewicht aufrechterhalten. Damit besteht die Gefahr einer Dekompensation, wie Fachleute es ausdrücken.

Die Stabilität der Abwehrfunktion und die Fähigkeit, sich einen Zugang  zu Glücksgefühlen zu verschaffen, ist bei einzelnen Menschen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Dass Erinnerungen wach werden, die in der eigenen Vorgeschichte unerträglich waren, kann Menschen passieren, die schlimme Erfahrungen gemacht haben. Wir sprechen dann von Traumatisierungen. Unter gewohnten und stabilen Lebensbedingungen konnte die innere Abwehr im günstigen Fall verhindern, dass solche Erinnerungen wieder wach werden. Wenn die psychische Belastung aber zu hoch wird, kann dieses Gefüge einknicken.

Aber auch Menschen, die keine Traumatisierungen erlitten haben, laufen in dieser Zeit Gefahr, psychisch zu dekompensieren. Das äußert sich z. B. in Niedergestimmtheit, Antriebsarmut oder Gereiztheit. Viele Menschen haben mehr unausgefüllte Zeit und kommen ungewollt zur Ruhe. Das, was man sich früher gewünscht hatte, wird zum Problem, da es an Abwechslung  und positivem Ausgleich mangelt. Das kann dazu führen, dass sie in ungewohnter Weise gewissermaßen mit sich selbst konfrontiert werden. Aufkommende Zweifel und alle damit verbundenen belastenden Gefühle für sich zu behalten und letztlich herunterzuschlucken, ist oft ein eingeübtes und vertrautes Verhaltensschema, führt aber nicht selten zu bleibender und verstärkter innerer Unruhe, Gereiztheit, Schlafproblemen oder auch zum vermehrten Runterspülen mit Alkohol.

Die Alternative ist, sich den Problemen zu stellen, sich zu öffnen, statt zu versuchen, sie zu vergessen. Das heißt, man sollte nicht mehr versuchen, alles mit sich allein auszumachen. Wenn in der eigenen  Ursprungsfamilie aber  kaum miteinander, nicht über sich und schon gar nicht über die eigenen Gefühle gesprochen wurde, unterbleibt dieses meist auch im späteren Leben. Es fühlt sich ungewohnt und fremd an: „Worüber soll man denn reden und was bringt das?“ Meines Erachtens kann es sich doch lohnen,  jenseits alter Gewohnheiten etwas Neues zu versuchen. Gespräche mit Angehörigen, Freundinnen oder Freunden können seelisch entlasten, von innerem  Ballast befreien und den Blick für  veränderte  Sichtweisen öffnen.  Das Miteinander ist heilsam für die Seele,  zumal der Mensch nicht als Einzelwesen  „konstruiert“ ist, sondern den Kontakt mit anderen Menschen braucht.  

Nach intensiveren Gesprächen können wir uns fragen,  wer überhaupt seinen eigenen Lebensweg so zielstrebig einschlagen und finden konnte,  ohne sich zu verlaufen, ohne Fehler, Versäumnisse, Schuld  und Peinlichkeiten?

Mein Fazit: Um in diesen Zeiten mit weitgehenden Kontaktbeschränkungen nicht die eigene Lebensfreude zu verlieren  oder gar depressiv zu werden, kommt es besonders darauf an, etwas für das seelische Wohlergehen zu tun. Gespräche mit Familienangehörigen oder Freunden können aber auch an Grenzen stoßen. Dann kann das Gespräch mit einer neutralen außenstehenden Person weiter helfen.

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